Frank Puscher, Die Customer Journey ist tot

Die „Wenn-Dann-Beziehung“ tritt an die Stelle der generalisierten Customer-Journey. 

"Die Customer Journey ist tot"

von Frank Puscher

Lange Jahre galt die Analyse der Customer Journey als erfolgsversprechender Ansatz, um die Kunden zum richtigen Zeitpunkt über den richtigen Kanal mit der richtigen Botschaft anzusprechen. Nun zeigt sich zusehends, dass die Verallgemeinerung im Analysemodell nicht mehr ist, als ein erster Schritt.

„1300 unterschiedliche Endgeräte benutzen die Menschen, die Otto.de aufsuchen“, sagt Olaf Schlüter, Bereichsleiter eCommerce, und hat deshalb in den letzten Jahren am Projekt LHOTSE gearbeitet, um den Otto-Shop nicht nur responsive zu machen, sondern um den gleichen Quellcode zumindest auch teilweise in den Apps zu verwenden. 

„Der Onlineshop muss doch unterscheiden können, ob meine Tochter gerade mein Notebook benutzt, um etwas zu suchen, oder ob ich selbst vor dem Gerät sitze“, analysiert Stephen Webb von Facebook und macht damit Werbung für Atlas, den AdServer von Facebook, der in der Lage ist, die User anhand einer anonymisierten Facebook-ID auch auf unterschiedlichen Geräten zu erkennen. 

Was Olaf Schlüter nicht sagt: Die Kenntnis über das benutzte Endgerät sagt noch überhaupt nichts darüber aus, warum ein User den Onlineshop aufsucht. Will der Shop aber eine persönliche Nutzererfahrung ermöglichen, dann müsste er sich doch unterschiedlich präsentieren, je nachdem, ob der Nutzer kaufen, stöbern, retournieren oder sich bewerben will.

Was Stephen Webb nicht erzählt: Die Facebook-ID funktioniert natürlich nur, wenn der jeweilige Rechner sich automatisch bei Facebook mit der richtigen ID einloggt. In dem Fall, wenn sich Webb mit seiner Tochter ein Notebook teilt, ist schon fraglich, ob beide Nutzer zuerst ihr Facebook LogIn aktualisieren, bevor sie etwas anderes mit dem Rechner unternehmen.

People-based Marketing von Facebook ist die richtige Richtung, wir brauchen aber auch noch die situative Handlungsintention

Es gibt mehr Customer Journeys als Customer

Beide Beispiele zeigen, dass beide Unternehmen ein wichtiges Problem adressieren. Sie wollen ihr jeweiliges Angebot (Otto: Shop, Facebook: Werbung) möglichst so ausspielen, dass das Angezeigte nicht nur zum Endgerät sondern idealer weise sogar zum User davor passt. Der Ansatz ist gut und richtig, greift aber in unserer immer komplexer werdenden Welt deutlich zu kurz – oder zu weit, je nachdem, wie man es betrachten will. 

DIE Customer Journey gibt es nicht, Sie ist ein theoretisches Hilfskonstrukt, das vor allem der Vereinfachung dient. Manche Customer Journeys treffen tatsächlich auf mehre Menschen ziemlich ähnlich zu, etwa, dass sie nach einem Produkt auf Google suchen, dann über die Shopping-Ads in einen Onlineladen vordringen, dort noch Details und Hintergrundinformationen lesen und schließlich tags darauf über eine Retargeting-Anzeige dorthin zurück gelockt werden und kaufen. 

Retargeting, also das Anzeigen von früher betrachten Produkten in Werbeanzeigen auf Drittseiten, funktioniert bei den meisten Onlineshops. Es funktioniert aber nicht, weil es so eine fundierte Kenntnis der Customer Journey umsetzt, sondern es funktioniert, weil man einfach alle User an die letzten betrachteten Produkte erinnert, sobald man sie im Netz wiederfindet, und ein gewisser Prozentsatz davon kauft halt. Tatsächlich zeigt Retargeting sogar häufig, wie wenig die Technikexperten von der echten Customer Journey wissen. Sie zeigen ja auch dann noch das Produkt im Werbebanner an, wenn es der Nutzer längst gekauft hat … sogar beim Anbieter der die Werbung geschaltet hat … und sogar dann, wenn der Kaufabschluss auf einen Klick auf eben dieses Werbebanner gefolgt ist. 

Tatsache ist doch, dass in einer Welt, in der jedermann, jederzeit und überall online ist und das mit durchschnittlich fünf verschiedenen Endgeräten, eine repräsentative Customer Journey überhaupt nicht mehr existiert, nicht existieren kann. Jeder Nutzer hat seine eigene Customer Journey. Und die ist auch nicht stabil, sondern sie verändert sich von Tag zu Tage, mitunter sogar innerhalb einer Session. Das eine Produkt sucht er bei Google, das nächste bei eBay, das dritte bei Amazon, und wo er letztlich landet, um sich zu informieren und zu kaufen, steht in den Sternen. Es gibt mehr Customer Journeys, als es Customer gibt.

Daher sind Vorhersagen so schwierig und Systeme, die versuchen auf der Grundlage solcher Vorhersagen Umsatz und Gewinn eines Unternehmens zu steigern so erfolglos, zumindest im Umgang mit Neukunden. Bei Bestandskunden sieht das etwas anders aus, hier hält der Rückgriff auf eine Kaufhistorie natürlich schon sehr wertvolle, individuelle Informationen über den Kunden bereit, die Vorhersagen über einen Teil seines Verhaltens in der Zukunft erlauben.

Als Kerstin Pape für das Performance-Marketing bei Otto ein eigenes, dynamisches Attributionsmodell gebaut hatte, das ja versucht, die Werbemittel möglichst effizient an die Customer Journey anzulegen, musste Sie zunächst einmal erkennen, dass sie sich im Vorfeld in der Zuordnung der Budgets zu den Kanälen ein gutes Stück weit getäuscht hatte. Die direkten Abschlusskanäle – allen voran die Partnerprogramme – waren bislang mit zu viel Budget ausgestattet worden, die Bannerwerbung mit zu wenig. Tatsächlich stellte Pape fest, dass Displaywerbung einen wesentlich höheren Einfluss auf die Kaufentscheidung hat, als angenommen.

Hilfskonstrukte mit Hilfskonstrukten ergänzen

Für eine individualisierte Kundenansprache funktioniert die Customer Journey kaum. Sie ist zu holzschnittartig. Selbst wenn der Nutzer sich gerade im Kaufstadium XY befindet, verfängt die passgenau ausgespielte Werbemaßnahme doch nicht, weil er halt gerade einen Termin vor der Nase und folglich keine Zeit für E-Commerce hat. Und damit er nicht durchs Raster fällt, wird die Werbung sicherheitshalber mehrmals eingeblendet, und das nervt wiederum alle, die sie schon beim ersten Mal gesehen haben. 

Wir brauchen ein noch feineres Konstrukt für die Kundenansprache. Es genügt nicht, die Phasen der Kaufvorbereitung unterschiedlich zu adressieren. Gleichzeitig muss man die User persönlicher ins Visier nehmen, man muss ihre Wertesysteme, Motivatoren und Probleme kennen, um relevanter zu werden, dann kann man mit der Werbung sogar direkten Einfluss auf die weitere Customer Journey nehmen und Phasen überspringen.

Zwei Mechanismen bieten hier Hilfsmittel an, die einzeln betrachtet wiederum holzschnittartig funktionieren, in der gemeinsamen Anwendung aber ein wesentlich feineres Bild vom Kunden, seinen latenten und seinen aktuellen Befindlichkeiten geben.

1. Neuro-Personas: 

Die Modellierung von sechs bis zehn Kundentypen wird schon seit Ende der Neunziger angewendet, um vom allgemeingültigen Gießkannenprinzip etwas näher an den einzelnen Nutzer zu gelangen. Neu ist, dass wir zu den Grundeigenschaften auch das motivatorische Wertesystem abbilden und damit die Gefühle der Nutzer ansprechen können. Was dringend auch dazu gehört, ist eine situative Kontextdefinition: Wie agiert Kundin Lisa, wenn sie schon weiß, was sie kaufen möchte? Was braucht User Richard am Dringendsten, wenn er mit einer Supportanfrage auf die Website kommt?

2. Selbsteinordnung

Weitaus wirkungsvoller als jede theoretische Verhaltensvorhersage, ist die Taktik, es den Nutzer doch einfach selbst tun zu lassen. Das beginnt bei der Bestellung des Newsletters, wo er seine Präferenzen hinterlässt. Das wäre in der Shop-Navigation denkbar, wo man neben den klassischen Produktkategorien eventuell neue Zugänge ermöglicht. Bei Frauenmode könnte man die Domestic Diva vom Urban Girlie unterschieden, oder man verzweigt zwischen „Sie wollen kaufen“ und „Sie haben schon“. 

Tatsächlich hat sich die Selbsteinordnung vor allem im Suchmaschinenmarketing als extrem hilfreich gezeigt. Der Nutzer gibt dem Werbesystem von Google Informationen über seine aktuellen Bedürfnisse preis, um im Gegenzug passendere Ergebnisse zu erhalten. Sollte es zum Beispiel einem Onlineshop gelingen, den Kunden als Partner auf Augenhöhe zu sehen, dann könnte er durch einen klug gebauten Fragebogen – man denke an die Musikpersonalisierung bei Spotify oder an den Curated Shopping Ansatz von Modomoto und Outfittery – nicht nur seine Datenbasis verbessern sondern auch ein gewisses Commitment beim Nutzer verankern, das als Vorstufe zu Loyalität zu sehen ist. Aber natürlich muss der Shop sich das erst verdienen.

Ohne Automatisierung geht es nicht

Wer aufmerksam gelesen hat, wird erkennen, dass hier Äpfel mit Birnen verglichen werden. Zuerst wird Online-Marketing (offsite) kritisiert und dann als Lösung zwei Onsite-Methoden dargestellt. Tatsächlich ist die Selbsteinordnung im Marketing schwierig umzusetzen, es sei denn es geht um Suchbegriffe. Allerdings kommt hier der gute alte Kontext wieder ins Spiel. Auch das Aufsuchen bestimmter Themenseiten ist ja eine Selbsteinordnung.

Die Neuro-Personas bilden da die verbindende Klammer. Wer seine Nutzer so gut analysiert, dass in Vertrieb und Marketing wieder Empathie für die Kunden entsteht, der wird auch in der Lage sein, in nutzer-typischen Offsiteszenarien zu denken (Was sucht ein Autokäufer vor dem Kauf auf Motortalk.de?), und diese werblich auszuweiden. Es entsteht also theoretisch eine gigantische Matrix aus Menschen, Werten, Situationen und Kaufphasen. Will man darin effizient kommunizieren, so geht das nur mit guter Software. Sie entscheidet, was wann an wen ausgespielt wird, egal ob onsite oder offsite. Dabei tritt die „Wenn-Dann-Beziehung“ an Stelle der generalisierten Customer-Journey. 

Kann das kaufen von Produkten auf Twitter heute schon von Customer Journey Modellen abgebildet werden?

Das System versucht also aus den verfügbaren Variablen abzulesen, wo sich der User im Moment wirklich befindet und dafür eine Antwort zu bieten. Das hört sich komplexer an, als es ist, denn natürlich wird man sich auf wichtige Touch-Szenarien (statt Touchpoints) und Trigger reduzieren. Dennoch erfordert es im Vorfeld viel mehr Hirnschmalz und Aufwand in der Planung und bei der Erstellung der Kreativelemente. Dafür läuft das System dann ab einem gewissen Zeitpunkt autonom und – wenn die Software das kann – selbstoptimierend. Gleichzeitig ist ein solches System extrem schnell und skalierbar. Es kann sehr schnell auf neue Kanäle adaptiert werden, sofern das neue System nicht das Verhalten der User grundlegend ändert.

In der Programmierung würde man diesen Ansatz „Objektorientierung“ nennen. Das sich verändern von Verhaltensmustern sehen wir übrigens gerade in diesen Tagen. Die unterschiedlichen Social Media arbeiten immer intensiver mit Buy-Buttons. Verkaufen auf Facebook? Es gab eine Zeit, da wäre man für diesen Gedanken ausgebuht worden. Der Deutschen Bahn ist das beim Chefticket-Skandälchen 2010 ziemlich massiv passiert. Social Media ist also nicht mehr nur für Katzenbilder sondern auch für Produktangebote oder für Supportanfragen oder für direkte Kommunikation oder als Unterhaltungsmedium oder als persönliches Archiv, oder, oder, oder.

Es gibt sie eben nicht, DIE Customer Journey.

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Über den Autor: Frank Puscher - digitaler Trainer und Journalist

Seit über 20 Jahren arbeitet Frank Puscher als freiberuflicher Journalist, Berater und Trainer in den Themengebieten E-Commerce und OnlineMarketing. Er berät Führungskräfte und unterstützt sie bei der regelmäßigen, persönlichen Stärkung ihrer Onlinekompetenz. Puscher begann seinen beruflichen Werdegang als Redakteur und Ressortleiter bei unterschiedlichen Verlagen und Medienhäusern wie Burda und ProSieben. Puscher hat sieben Bücher über Webdesign, Kreativität und Usability geschrieben

Frank Puscher spricht im Rahmen der relaunch Konferenz über das Thema Neuro-Personas am 6.6.2016 in Hamburg.

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